Dringende Fragen an die akademischen Lebenswissenschaften

Antwort von Professor Dr. Andreas Beyer

Sprecher der AG Evolutionsbiologie im Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin (VBIO e. V.), Professor für Molekularbiologie an der Westfälischen Hochschule in Recklinghausen.

Die Wiedergabe der Antwort erfolgt im Wortlaut. Die grau unterlegten Stellen sind von Herrn Professor Beyer verwendete Zitierungen aus dem Fragetext, alle nicht unterlegten Teile sind sein eigener Antworttext. Der gesamte ursprüngliche Fragetext findet sich unter der Antwort.


(…) Es geht um Zusammenhänge von besonderem öffentlichen Interesse, die in der modernen Grundlagenforschung der Evolutionsbiologie keine hinreichende Beachtung gefunden haben, obwohl sie schon von Charles Darwin in seinem Hauptwerk unmissverständlich dargelegt wurden. Und zwar schrieb er, wie Sie wahrscheinlich wissen, dass seine Theorie vernichtet wäre, wenn in der Natur auch nur ein Beispiel gefunden würde, bei dem irgendein Merkmal einer Spezies zum ausschließlichen Nutzen einer anderen Spezies entstanden ist. Folgend ein entsprechendes Zitat:

„Natural selection cannot possibly produce any modification in any one species exclusively for the good of another species; though throughout nature one species incessantly takes advantage of, and profits by, the structure of another. (…) If it could be proved that any part of the structure of any one species had been formed for the exclusive good of another species, it would annihilate my theory, for such could not have been produced through natural selection. Although many statements may be found in works on natural history to this effect, I cannot find even one which seems to me of any weight.“ [1]

Es ist in aller Regel heute nicht mehr Ziel führend, mit Darwin zu argumentieren: Ihm waren die Mechanismen der Genetik sowie – in diesem Zsh. noch wichtiger – der Populationsgenetik vollkommen unbekannt. Er konnte Selektionskoeffizienten nicht berechnen und Aspekte wie z.B. Inclusive Fitness nicht berücksichtigen (er verfügte nicht einmal über diese Konzepte). Analog würde heute ja auch niemand mehr mit der – mittlerweile gut 100 Jahre alten – Wegener’schen
Kontinentalverschiebungstheorie argumentieren, sondern mit der Theorie der Plattentektonik.

Da ich davon ausgehe, dass die mit Abstand wahrscheinlichste Möglichkeit der Entstehung
von Merkmalen einer Spezies zum ausschließlichen Nutzen einer anderen im Bereich parasitärer Strategien liegen muss und diese Strategien samt ihrer Ergebnisse (also die zum Nutzen des Parasiten veränderten Merkmale) in der natürlichen Selektion entstanden sind, habe ich Wissenschaftler aus dem Bereich der Parasitologie angefragt, ob es dazu Beispiele gibt. Unter anderem teilte mir darauf ein langjährig forschender Professor der Parasitologe und Fachbuchautor mit, dass ihm noch nie eine belastbare Beschreibung untergekommen sei, in der ein Parasit die Merkmale von Folgegenerationen der angegriffenen Seite zu seinem Nutzen manipuliert. Obwohl es verschiedene denkbare Möglichkeiten gebe, wie solches funktionieren könnte, handelten alle Beschreibungen immer nur von vielfältigen Manipulationen auf der individuellen Ebene.

Nun die Fragen:

1. Sind Ihnen Beispiele entsprechender parasitärer Strategien oder sonstiger Wechselwirkungen zwischen Spezies bekannt, deren Ergebnisse der o.g. Feststellung Darwins zuwiderlaufen und somit seine Theorie widerlegen?

Die Realität ist komplexer, als diese Frage suggeriert – nur ein Beispiel: Der Bacteriophage λ kann sein Genom in das Genom der Wirtszelle (also das Bakterienchromosom) einbauen. Damit ist dieses Genom hereditär (= erblich) verändert, und zwar zum ausschließlichen Nutzen des Parasiten. Das aber klappt nur, weil λ sich in wichtige, zytogenetische Mechanismen des Wirts „einklinkt“, auf die jener nicht ohne weiteres verzichten kann. (Nebenbei bemerkt haben die Wirtsbakterien mehrere Abwehrsysteme gegen Bakteriophagen entwickelt: CRISPR-Cas, Restriktionssysteme…) Und selbst solche eigentlich einfachen Beziehungen können komplexer sein: Z.B. Corynephage ß trägt ein Toxin-Gen, welches er – wenn er sich in das Bakteriengenom integriert – dem Wirt zur Verfügung stellt, dann aber selber ebenfalls von dessen so erlangter Toxizität Nutzen zieht. Anderes Beispiel dafür, dass ökologische Beziehungen komplex und mehrschichtig sind: Gräser und Weidevieh – sind das „Freunde“ oder „Feinde“? Vom Prinzip her ist dies eine Räuber-Beute-Beziehung, denn die einen fressen die anderen. Ergo haben Gräser Abwehrmechanismen entwickelt, z.B. bittere Inhaltsstoffe und scharfe Blattspreiten. (Wer sich je an Gras geschnitten hat, weiß, was hier gemeint ist.) Kühe haben mit ihren rauen und robusten Zungen „evolutiv nachgerüstet“. Andererseits: Die meisten Steppen würden von Busch und Wald überwachsen, würden sie nicht regelmäßig beweidet. Somit erhält das Weidevieh durch Beweidung vielerorts den Lebensraum für Gräser. Daher kann die ökologische Beziehung zwischen Gräsern und Weidevieh nicht eindimensional beschrieben werden. Darwin konnte von alledem nichts wissen, und daher ist es auch nicht sinnvoll, mit ihm und seinen – mittlerweile in etlichen Aspekten historischen – Ideen zu argumentieren.

2. Falls nein: Gibt es in der Natur keine solchen Beispiele, weil die ökologischen Prozesse zu primitiv sind, der Mensch sich durch Intelligenz herausgehoben hat oder was sonst könnten die Gründe dafür sein, dass sich Entsprechendes im Ökosystem nirgendwo herausbildete?

Nochmals: Diese Frage lässt sich in der hier gegebenen Verkürzung nicht sinnvoll beantworten: Das Konzept von Selektion, das dahinter steht, ist zu eindimensional und der Komplexität ökologischer Wechselbeziehungen nicht angemessen.

Das besondere öffentliche Interesse ergibt sich daraus, dass die Nahrungsgrundlage der Menschheit auf der manipulativen Hervorbringung von Merkmalen anderer Spezies zum eigenen vorrangigen Nutzen über deren Generationsfolgen gründet. Zudem wurde diese Methodik in jüngster Zeit massiv intensiviert. Sollte dem Fehlen in der Natur eine im nachhaltigen Sinne bestehende Dysfunktionalität zugrunde liegen, so muss eine hochkritische Situation entstanden sein. Zur bestmöglichen Entscheidungsfindung in einer solchen wäre die tiefgreifende und schnelle Aufdeckung des gegenständlichen Sachverhaltes die wichtigste Grundvoraussetzung.

Soweit ich diese Formulierungen verstehe, ist hier gemeint: Der Mensch züchtet Nutztiere und -pflanzen ausschließlich zum eigenen Vorteil: Viele der eingezüchteten Eigenschaften sind – als solche unbestrittenermaßen – für die gezüchteten Sorten / Stämme ökologisch oder physiologisch nachteilig. Dadurch ergäbe sich lt. Pichler eine „Dysfunktionalität“ dieser Sorten und Rassen, was eine „hochkritische Situation“ darstelle. Mit letzterem ist vermutlich gemeint, dass diese Organismen nicht evolutionsstabil und/oder ökologisch untauglich und/oder zu empfindlich seien. Dies erscheint zwar logisch, aber es basiert auf einem zu simplen Konzept von Selektion. Die Evolution denkt nicht, will nichts, plant nicht. Einem System (Spezies, Ökosystem etc.) ist es auch egal, woher der Selektionsdruck kommt, ob „natürlich“ oder Mensch-gemacht: Es reagiert allein auf die hier aktuell wirksamen Kausalfaktoren. Hier angewendet bedeutet dies: Zuchtrassen und -sorten erfahren durchaus einen Vorteil: Wg. ihrer Eigenschaften werden sie vom Menschen gefördert und kultiviert – und andere nicht. So entsteht ein wirksamer Selektionsdruck zugunsten eben jener Rassen/Sorten. Und der Kausallogik der Selektion ist es – wie gesagt – egal, woher solcher Selektionsdruck kommt. Solange der Mensch existiert und diese Förderung vornimmt, ist dieses System sowohl ökologisch stabil als auch ​evolutionsstabil. „Dysfunktionalität“ hingegen ist ein wertender Begriff, der hier schlichtweg nicht greift. Sobald des Menschen Förderung wegfällt, werden die meisten Zuchtrassen verschwinden (so wie 99,9% aller Spezies, die je gelebt haben, und zwar, weil die Selektion auf die eine oder andere Weise dafür gesorgt hat). Und einige werden überleben, so wie der Dingo.

Was bedeutet dies denn nun konkret für uns und unsere heutigen Zuchtrassen und -sorten? Zunächst einmal ist dieser Zustand – die menschliche Zivilisation und ihre Züchtungsprodukte – seit fast 10.000 Jahren stabil. Es gibt von daher keinerlei Anzeichen für „Dysfunktionalität“ oder eine „hochkritische Situation“. Was den Zustand dieser Welt anbelangt, so lässt sich freilich keine Entwarnung geben, im Gegenteil. Aber der finale Grund für galoppierende Umwertzerstörung, Klimawandel, Akkumulation von Giften in der Natur etc. ist ein sehr trivialer: Es gibt viel zu viele Menschen, wir leben extensiv und wir sind Faktor 4-8 mehr, als diese Welt „problemlos wegstecken“ könnte. Alle mit Landwirtschaft verbundenen Probleme – Überdüngung, Zerstörung gewachsener Ökosysteme, Biotope und Habitate, Artensterben (dabei auch Verdrängung von alten Nutzrassen: genetische Erosion), verstärkte Erosion, Versteppung und Verwüstung usw. usf. – lassen sich auf diesen einfachen Nenner bringen. Nutzrassen also solche spielen in diesem Kausalgefüge nur eine untergeordnete Rolle. Nebenbei bemerkt: Der Einsatz von Antibiotika bei Nutzvieh zur Ertragssteigerung – was mit Züchtung absolut nichts zu tun hat – und die damit verbundene Selektion resistenter Keime ist sicherlich weit kritischer zu beurteilen.

Die eingangs geäußerte Ansicht, diese „Zusammenhänge“ hätten „in der modernen Grundlagenforschung der Evolutionsbiologie keine hinreichende Beachtung gefunden“, ist inkorrekt: All diese Zusammenhänge, die ich hier nur grob andeuten konnte, sind längst Gegenstand der Forschung und bestens aufgeklärt. Auch fehlt[e] es nicht an Mahnern, die öffentlich auf Gefahren hinweisen – man denke nur an die Studie „Global 2000“ aus dem Jahre 1980: Das ist nun bald ein halbes Jahrhundert her. Es fehlt (a) an politischem Willen, wie man z.B. aktuell im Rahmen der Klimamaßnahmen (besser. der nicht getroffenen Klimamaßnahmen) sehen kann und (b) sind die Selbsterhaltungskräfte der Wirtschaft – und beileibe nicht nur der „kapitalistischen“ – zu groß.

Prof. Dr. Andreas Beyer, Nov. 2022


Von Steffen Pichler an Professor Dr. Beyer gesendeter Fragetext:

Ich möchte Sie hier um Beantwortung zweier kurzer Fragen bitten. Es geht um Zusammenhänge von besonderem öffentlichen Interesse, die in der modernen Grundlagenforschung der Evolutionsbiologie keine hinreichende Beachtung gefunden haben, obwohl sie schon von Charles Darwin in seinem Hauptwerk unmissverständlich dargelegt wurden. Und zwar schrieb er, wie Sie wahrscheinlich wissen, dass seine Theorie vernichtet wäre, wenn in der Natur auch nur ein Beispiel gefunden würde, bei dem irgendein Merkmal einer Spezies zum ausschließlichen Nutzen einer anderen Spezies entstanden ist. Folgend ein entsprechendes Zitat: 

„Natural selection cannot possibly produce any modification in any one species exclusively for the good of another species; though throughout nature one species incessantly takes advantage of, and profits by, the structure of another. (…) If it could be proved that any part of the structure of any one species had been formed for the exclusive good of another species, it would annihilate my theory, for such could not have been produced through natural selection. Although many statements may be found in works on natural history to this effect, I cannot find even one which seems to me of any weight.“ [1]
 
Da ich davon ausgehe, dass die mit Abstand wahrscheinlichste Möglichkeit der Entstehung von Merkmalen einer Spezies zum ausschließlichen Nutzen einer anderen im Bereich parasitärer Strategien liegen muss und diese Strategien samt ihrer Ergebnisse (also die zum Nutzen des Parasiten veränderten Merkmale) in der natürlichen Selektion entstanden sind, habe ich Wissenschaftler aus dem Bereich der Parasitologie angefragt, ob es dazu Beispiele gibt. Unter anderem teilte mir darauf ein langjährig forschender Professor der Parasitologe und Fachbuchautor mit, dass ihm noch nie eine belastbare Beschreibung untergekommen sei, in der ein Parasit die Merkmale von Folgegenerationen der angegriffenen Seite zu seinem Nutzen manipuliert. Obwohl es verschiedene denkbare Möglichkeiten gebe, wie solches funktionieren könnte, handelten alle Beschreibungen immer nur von vielfältigen Manipulationen auf der individuellen Ebene.
 
Nun die Fragen:

1. Sind Ihnen Beispiele entsprechender parasitärer Strategien oder sonstiger Wechselwirkungen zwischen Spezies bekannt, deren Ergebnisse der o.g. Feststellung Darwins zuwiderlaufen und somit seine Theorie widerlegen?

2. Falls nein: Gibt es in der Natur keine solchen Beispiele, weil die ökologischen Prozesse zu primitiv sind, der Mensch sich durch Intelligenz herausgehoben hat oder was sonst könnten die Gründe dafür sein, dass sich Entsprechendes im Ökosystem nirgendwo herausbildete? 

Das besondere öffentliche Interesse ergibt sich daraus, dass die Nahrungsgrundlage der Menschheit auf der manipulativen Hervorbringung von Merkmalen anderer Spezies zum eigenen vorrangigen Nutzen über deren Generationsfolgen gründet. Zudem wurde diese Methodik in jüngster Zeit massiv intensiviert. Sollte dem Fehlen in der Natur eine im nachhaltigen Sinne bestehende Dysfunktionalität zugrunde liegen, so muss eine hochkritische Situation entstanden sein. Zur bestmöglichen Entscheidungsfindung in einer solchen wäre die tiefgreifende und schnelle Aufdeckung des gegenständlichen Sachverhaltes die wichtigste Grundvoraussetzung.