Der erste realistische Ansatzpunkt für den physischen Teil der Notbremsung
Von Steffen Pichler
Mit Behandlungen einzelner Symptome oder bloßen Appellen an die Vernunft wird ein Durchbrechen der in Teil 2 reflektierten, komplexen physischen und psychischen Kreisläufe in der nun sehr späten Phase sicher nicht möglich sein. Eine grundsätzliche Unmöglichkeit kann aber auch ausgeschlossen werden – erkennbar daran, dass es unter den Menschen vielfältige Nuancen und Varianten des von individuellen und auch kollektiven Entscheidungen gesteuerten Verhaltens gibt.
Diese reichen unter anderem von Aspekten des Konsums bis hin zu jenen der Fortpflanzung. Solange Szenarien theoretisch möglich wären, in denen die entsprechenden Entscheidungen der Menschen sich aus irgendwelchen Gründen auf breiter Ebene hin zu einem starken Abbremsen des physischen Teils der Kreisläufe ausrichten, solange könnte dieses vielleicht auch noch praktisch funktionieren. Und tatsächlich sind solche Szenarien denkbar und nicht unrealistisch.
Dass das tiefe Fundament der Zivilisation aus einer widernatürlichen und folglich nicht nachhaltigen Methodik besteht, lässt sich aktuell nicht ändern. Es gibt jedenfalls keine wirklich ersichtliche Möglichkeit, dass sich die nun acht Milliarden Menschen hauptsächlich von etwas anderem ernähren könnten als von gezüchteten Organismen. Allerdings zeigen empirische Studien, dass es theoretisch möglich wäre, die globale Landwirtschaft so umzustellen, dass die von ihr ausgehenden physischen Schäden auf einen Bruchteil der aktuellen Destruktionen zurückgingen – und zwar ohne, dass dadurch Hungersnöte entstünden. Es würde hierbei zwar im Grunde nur um einen Zeitgewinn gehen, da die unmöglich nachhaltige Methodik der künstlichen Zuchtwahl weiter die Basis bildet. Dieser ließe sich aber potenziell stark ausweiten und für die Suche nach Folgelösungen nutzen. Derweil käme es zu einer zügigen und weitreichenden Entlastung des irdischen Ökosystems, wodurch sich auch die eigenen Lebensgrundlagen der Menschen entsprechend stabilisieren würden.
In den besagten Studien wird einer ganz bestimmten Veränderung das mit sehr weitem Abstand größte Potenzial zugeschrieben: nämlich die drastische Reduzierung des Anteils tierischer Nahrungsmittel an dem Gesamtvolumen der landwirtschaftlichen Produkte. Auch konservative Schätzungen kommen hinsichtlich der dadurch möglichen positiven Auswirkungen auf frappierende Werte. Bei einer kompletten Herausrechnung aller direkten und indirekten Folgen der „Tierproduktion“, also etwa Landverbrauch für die Nährung, Kontaminationen von Wasser und Land durch Dung, Medikamente, Pestizide und andere Chemikalien, könnten sich demnach die schädlichen Effekte der gesamten globalen Landwirtschaft in mehreren Hinsichten auf nur noch ein Viertel des gegenwärtigen Standes reduzieren.
Der Leiter und Sprecher der bisher größten und von mehreren internationalen Instituten betriebenen Studie zu diesem Thema, Joseph Poore von der University of Oxford, erläuterte, dass die so freiwerdenden, aktuell als Weideland und Ackerland zur Futtermittelproduktion verwendeten landwirtschaftlichen Flächen jenen der Staatsgebiete der USA, Chinas, der Europäischen Union und Australien zusammengerechnet entsprächen [26]. Deren Renaturierung hätte dementsprechend starke positive Einflüsse auf das gesamte irdische Ökosystem. Zusammen mit den weiteren ökologischen Schäden durch Wasserverschmutzungen, Bodendegradationen und Abholzungen zur Schaffung von Weideland und Futtermittelanbauflächen sei die Tierhaltung in der Landwirtschaft die Hauptursache für das gegenwärtig laufende sechste Massenaussterben der Erdgeschichte – welches folglich stark abgebremst oder sogar gestoppt werden könnte. Laut Poore würde auch eine wesentliche Entlastung hinsichtlich der schädlichen Einflüsse der Zivilisation auf das globale Klima entstehen. Auf das Individuum heruntergebrochen seien die positiven Effekte eines Verzichtes auf den Konsum tierischer Nahrungsmittel größer als sie üblicherweise diskutierte Möglichkeiten im Verkehrssektor, wie den Umstieg auf Elektroautos, erbringen könnten [26].
Da schon an dieser einen Studie über zwei Dutzend renommierte Fachleute beteiligt waren, eine stabile empirische Basis verwendet wurde und auch viele weitere Studien zu grundsätzlich gleichen Ergebnissen kamen [27][28][29], kann gefolgert werden, dass an genau dieser Stelle – also der drastischen Reduzierung und bestenfalls Ausschaltung der „Tierproduktion“ in der Landwirtschaft – ein erster realistischer Ansatzpunkt für eine starke Bremswirkung im physischen Teil der fatalen Kreisläufe liegt.
Hier muss angemerkt werden, dass es aufgrund des hohen Druckes durch mittlerweile sehr umfangreiche empirische Nachweise gerade auch im deutschen Sprachraum heftige Gegenreaktionen aus dem Umfeld der dort besonders mächtigen Agrarindustrie gibt. In zahlreichen Pressemitteilungen und sonstigen Veröffentlichungen wird versucht, den empirisch bewiesenen Sachverhalt quasi umzudrehen. Teilweise werden dabei nur solche Argumente überhöht, die sich auf ökologisch positive Auswirkungen bestimmter Formen der Beweidung beziehen. Diese sind auch in den oben genannten Studien als solche berücksichtigt, haben aber keine größeren Auswirkungen auf deren Gesamtergebnisse und Schlussfolgerungen. In vielen der besagten Gegenreaktionen aus dem Umfeld der Agrarindustrie hingegen wird wahrheitswidrig und ohne jegliche empirische Basis versucht, die eskalierend schädlichen Auswirkungen der „Tierproduktion“ generell als vorteilhaft für das irdische Ökosystem darzustellen.
Zur Erzeugung der benötigten Bremswirkung in den physischen Teilen der fatalen Kreisläufe gibt es also tatsächlich eine theoretische Möglichkeit. Und diese würde auch noch ausgerechnet direkt zur weitreichenden Abbremsung der psychischen Hälfte des Teufelskreises führen. Wie bereits in Teil 2 gezeigt, waren Zucht und Haltung anderer Tiere durch die Zivilisationsgeschichte hindurch und bis heute das mit weitem Abstand stärkste Verdrängungsmotiv. Dies lässt sich von den ersten Seiten der Bibel über die Kernaussagen populärster Philosophen und bis hinein in die aktuellen Massenmedien deutlich erkennen. Es war durchweg so, dass die kognitiven Anstrengungen zur Verdrängung der besonders stark wahrgenommenen Widernatürlichkeit rund um die gezüchteten und unterworfenen „Nutztiere“ die wesentlichen Verschiebungen und Ausblendungen der Realität auslösten und dabei vielfach mehr geistige Kräfte absorbierten als alle anderen Teile des gesamten Komplexes. Es geht hier also um die Verursachung sowohl der mit Abstand größten Schäden im physischen als auch im psychischen Bereich.
Soweit damit schon mal eine geeignete Zielrichtung für die ersten Schritte einer Notbremsung gefunden ist, so zeigen allerdings weitere empirische Erhebungen und Statistiken auf, dass sich ganz aktuell innerhalb der globalen Menschheit eine diametral gegenläufige Bewegung vollzieht. Diese führt also nicht in die Richtung der von vielen Fachleuten als Lösung oder Zwischenlösung erkannten Reduzierung der „Tierproduktion“ durch das Konsumverhalten, sondern hin zu ihrer Erhöhung – und dies auch noch in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit.
Eine aktuelle Studie des UN-Umweltprogramms (UNEP) mit Auswertungen der relevanten Statistiken weist insbesondere für die letzten 20 Jahre eine starke Beschleunigung hinsichtlich globalen Konsums von tierischen Produkten aus der Landwirtschaft nach [30]. Bei fast allen der gezüchteten und gehaltenen Tierarten lag der Anstieg demnach im höheren zweistelligen Prozentbereich, teilweise kam es zu einer Verdoppelung. Wenn nun also zum Beispiel die Zerstörung der Regenwälder in südlichen Kontinenten zur Schaffung von Anbauflächen für Soja eskaliert, welches hauptsächlich zur Fütterung von Geflügel oder Säugetieren in den aktuell stark anwachsenden Industriehaltungen in Asien, den USA und Europa benötigt wird, dann ist dies eine kausale Folge dieser Beschleunigung. Und es wird erwartet, dass sich der Trend fortsetzt und noch weiter verstärkt.
In verschiedenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Strömungen werden die besonderen Problematiken rund um die eskalierende „Tierproduktion“ und ihre schädlichen Auswirkungen schon seit Jahrzehnten zumindest teilweise erkannt und diskutiert. Dabei entstandene Lösungsansätze sind unterschiedlich. Es gibt zum Beispiel solche in Richtung einer labortechnischen Herstellung von Produkten wie Fleisch oder Milch, wobei diese aus einzelnen tierischen Zellen quasi angezüchtet und dann in Bioreaktoren vervielfältigt werden sollen.
Die Reflexion der im letzten Absatz erwähnten sowie einiger anderer diskutierter Lösungsansätze lässt erkennen, dass keine davon solche schnellen und hochgradigen Veränderungen auslösen könnte, wie sie im Rahmen der besagten Notbremsung erforderlich wären. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass irgendwann ein Teil des Volumens tierischer Nahrungsmittel von solchen aus Bioreaktoren ersetzt wird und dieser sich dann im Laufe einiger Jahrzehnte weiter steigert. Aber die reale Situation besteht darin, dass die direkte „Tierproduktion“ aktuell in rasender Beschleunigung hochfährt und für solche Entwicklungen gar keine ausreichende Zeit mehr verbliebe.
Es gibt nur einen realistischen Ansatz, der sich auch in den besagten Diskussionen meistens als solcher herauskristallisiert: Die Menschen müssten aus eigener Entscheidung den Konsum tierischer Nahrungsmittel drastisch reduzieren. Dabei wird stets auch der Tatsache Rechnung getragen, dass die enormen Mengen des aktuell konsumierten tierischen Proteins für eine ausreichende Ernährung nicht notwendig sind. Zum Beispiel bestand in China die typische Hauptmahlzeit noch vor einem halben Jahrhundert aus einem Teller Reis mit gegartem oder gebratenem Gemüse, dazu Soße und, wenn überhaupt, einem kleinen Stück Fisch oder Fleisch. Die Leute waren damit zufrieden und gesund ernährt. Heute ist dies anders. Besonders die jungen Menschen wollen das, was sich aus den westlichen Industriestaaten heraus zunächst kopiert und dann vervielfältigt hat: Möglichst mehrmals am Tag Burger und Nuggets aus Fleisch, dazu allerlei Schokoriegel und andere Produkte mit tierischen Inhaltsstoffen.
Die Frage wäre nun also, was die Menschen dazu bewegen könnte, ihren Konsum in die gefundene Richtung zu verändern, also hinsichtlich der tierischen Nahrungsmittel wieder zu reduzieren. Es gäbe durchaus potenzielle Werkzeuge zur Erzwingung, jedenfalls auf den nationalen Ebenen. Das wären vor allem hohe Besteuerungen relevanter Produkte. Da solches aber jedenfalls aktuell in den meisten Staaten kaum durchsetzbar sein dürfte, ist das reale Potenzial momentan gering. Selbst Regierungen, denen die tatsächliche Situation auf irgendeine Weise umfassend begreifbar würde und die deswegen versuchten im Alleingang eine partielle Notbremsung einzuleiten, hätten wohl kaum Chancen sich gegen den Unmut der unaufgeklärten Bevölkerungen durchzusetzen.
Zu beachten sind hierzu jene Mechanismen, die in Teil 1 behandelt wurden, nach denen die Versuche einer Erzwingung grundsätzlich wenig Potenzial haben. Hinsichtlich einer notwendigen Veränderung des Konsums kann schon im Internet und in öffentlichen Diskussionen vielfach erkannt werden, wie schnell Aggressionen und Abwehrreflexe entstehen, wenn Menschen den Eindruck haben, dass andere Leute ihnen vorschreiben wollen, was sie essen sollen. Daran wird sich nichts ändern, weswegen auch entsprechende, offensiv vorgebrachte Forderungen an die Öffentlichkeit ebenfalls keine Notbremsung erzeugen werden.
Der nächste zu beschreitende Abschnitt des Weges zu den gesuchten Chancen lässt sich deswegen weiter präzisieren: Er kann nur in der Schaffung von Voraussetzungen liegen, durch die die benötigten Entscheidungen völlig frei von jeglichem äußeren Zwang generiert werden, also aus dem eigenen festen Willen der menschlichen Individuen heraus. Und ideal wäre, wenn diese eigenen Entscheidungen sich dann auch gleich noch positiv in andere Bereiche des Konsums und des sonstigen mit ökologischen Auswirkungen behafteten Verhaltens erstreckten.
Es gibt nur eine einzige theoretische Möglichkeit, wie diese drastischen Veränderungen der eigenen freien Entscheidungen entstehen könnten: Nämlich in Form der Nachholung einer vollständigen Aufklärung über die reale Gesamtsituation. Dies beträfe alles, was im Teil 2 reflektiert wurde, also nicht etwa nur die physischen Hintergründe, sondern genauso auch die psychischen. Wer wirklich über die reale Gesamtsituation vollständig aufgeklärt ist, der trifft von sich aus, ohne jeglichen äußeren Zwang, die richtigen Entscheidungen. Und derjenige wird sich dann auch nicht mehr gegen noch so weitreichende notwendige kollektive Veränderungen auflehnen, die bei ihm ohne solche Aufklärung starke Widerstände hervorgerufen hätten.
Wenn – als Metapher – die Menschen an Bord eines bereits angeschlagenen Schiffes mitten auf dem offenen Ozean vollständig über einen in Fahrtrichtung entgegenkommenden, unüberwindbaren Orkan und eine in anderer Richtung befindliche, mit vereinter Anstrengung gerade noch erreichbare Insel aufgeklärt werden, dann wird ausnahmslos jeder einzelne von ihnen – angeschoben von seinem sehr starken Überlebenstrieb – alles versuchen, was seine Kräfte hergeben, um diese letzte Chance zu ergreifen. Niemand wird per Zwang oder sonst wie überzeugt werden müssen; die Aktivität der Individuen unter Einsatz aller ihrer jeweiligen Kräfte kommt aus dem jeweils eigenen, sehr festen Willen heraus. Es wäre unmöglich, ohne Gewalt auch nur eines dieser aufgeklärten Individuen von seinen Bestrebungen zur Rettung abzubringen.
Wenn es aber nicht zu einer solchen Aufklärung kommt, dann veranstaltet die Besatzung vielleicht noch einen letzten feuchtfröhlichen Abend. Die zunehmenden Windgeräusche wird sie nicht korrekt zuordnen können und unweigerlich in ihr Verderben fahren. Das entspricht nach aktuellem Stand der Situation der heutigen Menschheit.
Quellen:
[26] The Guardian. Damian Carrington. https://www.theguardian.com/environment/2018/may/31/avoiding-meat-and-dairy-is-single-biggest-way-to-reduce-your-impact-on-earth
[27] Mazac et.al.: Incorporation of novel foods in European diets can reduce global warming potential, water use and land use by over 80 Percent, Nature Food – https://www.nature.com/articles/s43016-022-00489-9
[28] Welt.de Sabine Winkler Das bringen Veganer dem Planeten wirklich https://www.welt.de/kmpkt/article236724747/Ist-die-Formel-vegan-nachhaltig-richtig-Was-Veganer-an-Nachhaltigkeit-wirklich-bringen.html
[29] Espinosa-Marrón et.al. Volume 3 – 2022 Environmental Impact of Animal-Based Food Production and the Feasibility of a Shift Toward Sustainable Plant-Based Diets in the United States https://doi.org/10.3389/frsus.2022.841106
[30] Statistisches Bundesamt. https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/landwirtschaft-fischerei/tierhaltung-fleischkonsum/_inhalt.html